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Rotary Club
Bern Rosengarten

WB 34/2014

25. August 2014

Informationen der Präsidentin

Präsidentin Iris Dellsperger freut sich, Prof. em. Norbert Thom zusammen mit seiner Gattin Françoise heute Abend erstmals bei uns begrüssen zu dürfen. Des Weiteren begrüsst sie alle Anwesenden recht herzlich zum heutigen Abendmeeting. Wegen einer anderen Verpflichtung wird erst gegen Ende des Essen der Referent Christophe von Werdt, ebenfalls vom RC Bern-Münchenbuchsee, zu uns stossen.

 

Informationen aus dem Vorstand

Iris Dellsperger informiert, dass sich Bert Poeckes, der schon eine ganze Weile nicht mehr zu unseren Meetings kommen konnte, und sicher von dem ein oder anderen bereits vermisst wurde, aus beruflichen Gründen immer montags in Luxemburg aufhalten muss. Er hat dort die Leitung der väterlichen Firma übernommen, um diese wieder auf Kurs zu bringen. Parallel dazu baut er weiter das Hotel Savoy in Lausanne auf, das bis im nächsten Jahr abgeschlossen sein soll. Dann wird er praktisch zu 100% in Luxemburg sein. Aus diesem Grunde hat der Vorstand ihn auf seiner letzten Sitzung bis Ende des rotarischen Jahrs dispensiert, damit er sich in Ruhe einen neuen RC in Luxemburg suchen kann. Zu Beginn des neuen rotarischen Jahrs 2015/16 ist dann sein Übertritt geplant.

 

Informationen aus dem Club

Es liegen keine Informationen aus dem Club vor.

 

Christophe von Werdt, Geschäftsführer Berner Archiv AG: Hintergründe zum Konflikt zwischen Russland und der Ukraine

Eingangs stellt Iris Dellsperger den heutigen Referenten kurz vor:

Christophe von Werdt, geboren 1969 in Bern und Bernburger, seit 1996 mit Malgorzata verheiratet. Studium Osteuropäischer Geschichte, slawischer Philologie und der Wirtschaftswissenschaften an der Uni Zürich. Dort 2003 Promotion mit Summa cum laude zum Dr. phil. I mit dem Thema «Stadt- und Gemeindebildung in Ruthenien. Okzidentalisierung der Ukraine und Weissrusslands im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit». Aktuell ist er Lehrbeauftragter und/oder Studienleiter an den Universitäten Bern, Freiburg und Zürich sowie Mitbegründer und Mitinhaber der Berner Archiv AG.

Einleitung

  • Positionierung des Vortragenden: Sympathie für Ukraine (post-sowjetischer Staat mit zwei demokratischen Revolutionen), «weshalb ich eigentlich eine blau-gelbe Kokarde am Kragen tragen müsste»; Skepsis gegenüber Entwicklungen in Russland (Autoritarismus)
  • Aufbau des Vortrags: «Seven Rules of Nationalism»; Grundsatzrede von Präsident Putin vom 18. März 2014
  • Hauptthese: sog. «Ukraine-Konflikt» hat nicht nur mit der Ukraine zu tun = Austragung Konflikt russische Identitätsbildung – Russland kämpft mit dem Verlust des ehemaligen Imperiums
  • Zugleich Vernachlässigung des Blickwinkels: Ukraine als «gescheiterter Staat», Korruption / drohender Staatszerfall – allerdings verschärft durch Machtvakuum und russische Intervention

 

Seven Rules of Nationalism

Formuliert durch David C. Pugh vor dem Hintergrund der Jugoslawienkriege, wiedergegeben mit Erlaubnis des Norwegischen Flüchtlingsrats:

  • Regel 1: Wenn ein Gebiet 500 Jahre lang uns gehörte und 50 Jahre euch, dann sollte es Unser sein; Ihr seid nur Besetzer!
  • Regel 2: Wenn ein Gebiet 500 Jahre euch gehörte und 50 Jahre uns, dann sollte es Unser sein; Grenzen müssen respektiert werden!
  • Regel 3: Wenn ein Gebiet uns vor 500 Jahren gehörte, aber nie mehr seither, dann sollte es Uns gehören, denn es ist die Wiege unserer Nation!
  • Regel 4: Wenn die Mehrheit unseres Volkes in einem Gebiet wohnt, dann ist das Gebiet Unser, denn wir haben das Recht auf Selbstbestimmung!
  • Regel 5: Wenn eine Minderheit unseres Volkes in dem Gebiet wohnt, dann ist das Gebiet Unser, unsere Leute müssen gegen eure Unterdrückung geschützt werden!
  • Regel 6: Alle vorhergehenden Regeln gelten für Uns, nicht aber für euch!
  • Regel 7: Unser Traum von Grösse ist historische Notwendigkeit, euer Traum ist Faschismus!

 

Grundsatzrede Präsident Putins

  • Gehalten am 18. März 2014 nach Krim-Referendum, anlässlich Unterzeichnung der Dokumente zur Eingliederung der Krim in die Russische Föderation
  • Frenetischer Beifall der Parlamentskammern, nationale Hysterie – Putin mit Tränen in den Augen: Rolle als Retter des Imperiums, der Nation
  • Zustimmungswerte Putins bei russ. Bevölkerung: Tiefstwert 11/2013: 24 Indexpunkte, Höchstwert 6/2014: 73 Indexpunkte!
  • Interessant: Index des ökonomischen Optimismus und der «nationalen Wohlfahrt» bewegen sich parallel zur Zustimmung zum russ. Präsidenten! – logischer Zusammenhang im russischen Stimmungsbarometer?
  • Schlussfolgerung: «Ukraine-Konflikt» als Instrument der russländischen Innenpolitik zwecks Sicherung des Putin-Autoritarismus

 

Regel 1: Ukraine = Besetzer

  • Regel 1: Wenn ein Gebiet 500 Jahre lang uns gehörte und 50 Jahre euch, dann sollte es Unser sein; Ihr seid nur Besetzer!
  • Putin will Korrektur der territorialen Verluste nach Zerfall der Sowjetunion, «einer himmelschreienden historischen Ungerechtigkeit» (Putin)
  • Ukraine = Besetzer eigentlich russischen Territoriums?
  • Krim-Halbinsel:
    • Innerhalb Sowjetunion autonome Republik, mit Blick auf Krimtataren – Eingliederung in die Russländische Föderative Sowjetrepublik während des 2. Weltkrieges
    • 1954 Angliederung UdSSR: wirtschaftliche Gründe
    • Infrastrukturelle, wirtschaftlich und kulturhistorisch Zugehörigkeit zur Ukraine: Steppenkultur, Landverbindung
    • Aber: überwiegend russischsprachig, Mehrheit ethnischer Russen (58%, 24% Ukrainer, 12% Krimtataren)
    • Trotzdem: Meinungsumfrage im Februar 2014: nur 41% für Anschluss an Russland
    • «Volksabstimmung» März 2014 unter faktischer russischer Besetzung: Wahlbeteiligung nur 30% (und nicht 80%!), davon nur die Hälfte für Anschluss an Russ. Föderation
  • Ostukraine (Donezk, Luhansk):
    • Kolonisation im 18./19. Jh. von Ukraine (Kosaken) und Russland her = Neusiedelgebiet ohne klare kulturhistorische Zugehörigkeit
    • Zugehörigkeit zur UdSSR seit 1917, UdSSR bis 1924 territorial sogar noch weiter östlich ausgreifend
    • Mehr als 57% ethnisch ukrainische Bevölkerung (Donezk, Luhansk) – aber überwiegend russophon
    • Gemäss Meinungsumfrage April 2014 nur knapp 30% der Bevölkerung (Donezk, Luhansk) für Anschluss an Russland (Ja / eher ja)
  • Schlussfolgerung: Krim/Ostukraine zwar russophon, aber durchaus mit ukrainischer staatlicher Identität

 

Regel 3: Ukraine = Wiege der russischen Nation

  • Regel 3: Wenn ein Gebiet uns vor 500 Jahren gehörte, aber nie mehr seither, dann sollte es Uns gehören, denn es ist die Wiege unserer Nation!
  • Putin: Beschwörung der Krim als zentraler Erinnerungsort der russischen Geschichte / Literatur – Sevastopol=Heldenstadt, Krimkrieg, 2. Weltkrieg; russisches Arkadien
  • Putin: Krim als «integraler Bestandteil Russlands» – historische Gerechtigkeit
  • Grossrussisches Selbstverständnis – kulturhistorisch-religiöse Einheit der Ostslawen unter Einschluss der Ukraine (=Kleinrussland) und Weissrusslands und unter Führung Russlands; Putin: «…wir sind ja nicht einfach nur Nachbarn, sondern faktisch […] ein Volk»
  • Verständnis der mittelalterlichen Kiewer Rus‘ als Ursprung der russischen Geschichte (Kiew = Mutter aller russischen Städte)
  • Putin: «Streben der russischen Welt, des historischen Russland nach Wiederherstellung seiner Einheit»!
  • Aber: mittelalterliches Kiewer Reich = vergleichbar mit dem Reich Karls des Grossen und Ursprung verschiedener Nationalgeschichten
  • Aber: spezifischer kulturhistorischer Hintergrund der Ukraine (Polen-Litauen, Religion, Steppenkultur); Ansätze zu eigenständiger Staatlichkeit seit dem 17. Jh. und Nationsbildung seit dem 18./19. Jh.
  • Aber: Ukraine im machtpolitischen Orbit des russländischen Reichs erst seit dem 17./18. Jh. (Teilungen Polen-Litauens)

 

Regel 5: Ukraine unterdrückt Russen

  • Regel 5: Wenn eine Minderheit unseres Volkes in dem Gebiet wohnt, dann ist das Gebiet Unser, unsere Leute müssen gegen eure Unterdrückung geschützt werden!
  • Putin: Untergang der Sowjetunion als grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jh. – gegen den Willen der Menschen
  • Aber: 1991 stimmten über 90% der ukrainischen Bevölkerung der Ukraine für die Unabhängigkeit
  • Putin: Russland als Schutzmacht aller Russen ausserhalb Russlands
  • Rückgängigmachen der Sprachgesetzgebung von Janukowytsch durch neu Regierung = vermeintliche Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung
  • Realität: Bevorzugung der russ. Sprache in der Sowjetunion und Aufwertung durch Janukowitsch
  • Realität: keine Diskriminierung des Russischen in unabhängigem ukrainischen Staat: faktische Zweisprachigkeit, Dominanz russischer Medien (Problem der Propaganda)
  • Aber: Förderung des Ukrainischen im Bildungsbereich zur Stützung der ukrainischen Staatlichkeit
  • Meinungsumfrage April 2014: in Luhansk / Donezk sind «nur» 30-40% der Bevölkerung der Meinung, Rechte der russischsprachigen Bevölkerung würden verletzt (Südostukraine gesamthaft: 23%);
  • weniger als 10% Südostukraine haben Angst vor dem Aufzwingen einer einzigen Sprache;
  • Aber zwischen 30-45% Südostukraine haben Angst: Banditentum, Bürgerkrieg, Zusammenbruch der Wirtschaft
  • Nur 12% Südostukraine würden Einmarsch russischer Truppen unterstützten
  • 70% Südostukraine wollen keine Abspaltung von Ukraine und Anschluss an Russland (Donezk / Luhansk: 50% wollen Abspaltung und Anschluss)

 

Regel 7: Ukraine = Faschisten

  • Regel 7: Unser Traum von Grösse ist historische Notwendigkeit, euer Traum ist Faschismus!
  • Putin: Bezeichnung der ukrainischen Machthaber und der Majdan-Bewegung als Faschisten «geistige Erben Banderas, Hitlers Handlanger im Zweiten Weltkrieg» – Bedienung eines sowjetischen Stereotyps des nationalistischen Ukrainers
  • Extreme Rechte (Swoboda, Rechter Sektor) nicht repräsentativ für Euromaidan-Bewegung: nur 5% Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung (mehrere repräsentative Meinungsumfragen) – bewusst propagandistische Überzeichnung der Bedeutung durch Russland
  • auch traditionell geringe rassistische Gewalt in der Ukraine – demgegenüber europaweit hoher Anteil rassistischer-neonazistischer Übergriffe in Russland!
  • Faktisch: Regime Putins = «faschistisch» – Autoritarismus, «starker Mann», Heroisierung der Gewalt und des Machtwillens; aggressive Machtpolitik im Innern und gegen Aussen

 

Schluss

  • Rede Putins auf der Krim (14.8.2014): Anschluss der Krim als national für Russland einigender Faktor!
  • Putin instrumentalisiert Konflikt für Innenpolitik: nationale Einheit, Popularität, Stärkung des Autoritarismus, Mobilisierung westlicher Feindbilder und innenpolitisches Feindbild «Fünfte Kolonne»
  • Gezielte Destabilisierung der Ukraine durch Russland = Sicherung des Einflussbereichs Russlands
  • Ukraine: Beispiel zweier demokratischer Revolutionen gegen korrupte autoritäre Regimes (2004, 2014) – Bedrohungspotential für die autoritäre Herrschaft Putins

Ausblick:

  • Anhalten der militärischen Konfrontation im Donbas: Gefahr eines Abschlitterns in einen Bürgerkrieg (unkontrollierte Milizen auf beiden Seiten; Tradition ukrainischer Partisanenkrieg) und Entfremdung der Bevölkerung gegenüber dem ukrainischen Staat
  • Gefahr der unkontrollierte Eskalation des Konflikts durch russ. Aktionen und ukrainische Gegenreaktionen (Beispiel Konvoi) – bzw. umgekehrt (russ. Intervention zum Schutz der Bevölkerung)!
  • Wo liegen Grenzen des russischen Schutzmachtanspruchs und der Wiederherstellung der Einheit Russlands, der «Heim ins Reich-Bewegung» (Weissrussland, Kasachstan, Moldawien, Baltikum…)?
  • Oder auch: Konsolidierung des ukrainischen Staates und Distanzierung von Russland / Annäherung an EU durch russische Bedrohung

 

Diskussion

Dem sehr interessanten Vortrag schliesst sich eine rege Diskussion an. So meinte Christophe von Werdt abschliessend auf die Frage, wie denn nun der Konflikt zu lösen sei, da Russland kaum die Krim wieder herausgeben dürfte, dass dies nur unter Wahrung des Gesichts von Putin und Russland geschehen könne. Aus seiner Sicht könnte dies z.B. ein neues Referendum zu den beiden Fragen «Verbleib in Russland?» oder «Rückkehr in die Ukraine?» sein, wobei diese Abstimmung nur unter internationaler Aufsicht und völlig unabhängig stattfinden dürfe.

Danach dankt Iris Dellsperger zuerst dem Referenten herzlich für seinen Vortrag sowie die anschliessende Diskussion und überreicht ihm unser traditionelles Gastgeschenk, den Rosenlikör, und wünscht dann wie immer allen eine gute und erfolgreiche Woche.

 

Nächste Meetings

Zu den nächsten Meetings vergleiche die Homepage des Clubs.

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